Die Geschichte klingt wie aus dem Märchenbuch des Leistungssports. Ein Mädchen vom Land ist eine begabte Leichtathletin. Aber der Vater möchte, dass sie in der elterlichen kleinen Landwirtschaft mithilft, statt zu trainieren. Da kommen gute Menschen und unterstützen sie. Und aus dem Mädchen wird in kurzer Zeit eine der besten deutschen Hochspringerinnen. Jetzt ist das ganze kleine Dorf stolz auf sie.
Schon als Zwölfjährige sprang sie 1,33 Meter hoch
Für Renate Gärtner, die am 1. Oktober 1952 in dem ca. 60 Einwohner zählenden Leimenhof bei Flieden geboren wurde, wo sie ihre früheste Kindheit verbrachte, in der Natur spielte und auf den Äckern half, auf denen ihre Eltern arbeiteten, ist dieses Märchen Wahrheit geworden. Schon als Zwölfjährige sprang sie 1,33 Meter hoch. Ihr Cousin, der Bauunternehmer Alfred Wess, nahm sie unter seine Fittiche und fuhr sie regelmäßig zum Training. Ihr Vater, berichtete sie 1989 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „war eigentlich gegen den Sport“, weil er jede Hand in der Landwirtschaft benötigte. „Da musste ich viel helfen, vielleicht war das mein Training.“ So sprang sie im Garten über zwischen zwei Bäume gespannte Seile. Zunächst trainierte sie bei ihrem Heimatverein, dem TV Flieden, 1968 wechselte sie zur SG Schlüchtern. Mit 15 Jahren bewältigte sie bereits 1,60 Meter im Straddle-Stil. An den damals in Mode gekommenen Fosbury-Flop konnte sie sich nicht gewöhnen.
Die jüngste deutsche Leichtathletikmeisterin
1969, noch 16 Jahre alt und unterdessen Studentin am Pädagogischen Fachinstitut in Fulda, wurde sie deutsche Hochsprungmeisterin sowohl bei der Jugend als auch bei den Frauen. Dabei überquerte sie 1,73 Meter, an 1,75 Meter scheiterte sie nur knapp. Sie war die bis dahin jüngste deutsche Leichtathletikmeisterin. Für heutige Spitzensportler undenkbar, trainierte sie nur zwei- bis dreimal in der Woche. Ihr Trainer Alfred Wess erklärte damals: „Renates Sprungkraft ist gut, auch den Schwerpunkt bringt sie gut über die Latte, nur manchmal weiß sie nicht, wohin mit den Gliedmaßen, und manchmal springt sie in die Latte. An der Verbesserung dieser Mängel werden wir jetzt hauptsächlich arbeiten.“ Ihr außergewöhnliches Talent war erkannt und weckte Hoffnungen. „Renate Gärtner hat zwei Eigenschaften, die sie für den Hochsprung besonders geeignet machen – Sprungkraft und Ehrgeiz“, schrieb Gerd Lobin nach den Deutschen Meisterschaften in der Frankfurter Rundschau. „Ganz sicher wird sie 1,80 m überspringen und vielleicht noch höher steigen, dorthin, wo im ‚olympischen Himmel‘ die Medaillen hängen“.
1,83 Meter: Rekord im Deutschen Leichtathletik-Verband
Die Prognose sollte sich zum Teil bewahrheiten. Denn schon zwei Jahre später konnte sie ihren Titelgewinn bei den Frauen wiederholen und setzte mit 1,83 Meter eine neue Rekordmarke für den Bereich des Deutschen Leichtathletik-Verbands. Ein Jahr zuvor hatte sie bei den Jugendeuropameisterschaften die Bronzemedaille gewonnen. Bei den Europameisterschaften der Frauen 1971 in Helsinki wurde sie sechste mit 1,81 Meter. Ihr großes Ziel waren aber die Olympischen Spiele 1972 in München. Mit 1,82 Meter kam sie zwar ganz nah an ihre persönliche Bestleistung heran, aber am Ende reichte es nur zu Platz 14. Überraschend gewann die damals erst 16-jährige Ulrike Meyfarth den Wettbewerb. Im Fosbury-Flop überquerte sie im Finale 1,92 Meter und stellte damit den Weltrekord ein. Im Hochsprung sind es nur wenige Zentimeter, die über Sieg oder Platz entscheiden. Renate Gärtner konnte sich zwar 1973 noch auf 1,84 Meter verbessern und hinter Ulrike Meyfarth deutsche Vizemeisterin werden, aber damit waren ihre Möglichkeiten erschöpft.
Deutsche Seniorenmeisterin in ihrer Altersklasse
Von 1973 bis zu ihrem Karriereende 1980 trat sie für Eintracht Frankfurt an, dann widmete sie sich verstärkt der Familie. Im Jahr 2000 packte sie noch einmal der Ehrgeiz. Sie trat bei den Deutschen Meisterschaften der Senioren an und gewann in der Altersklasse W45 mit 1,50 Meter. Bei den anschließenden Senioren-Europameisterschaften in Finnland wurde sie Dritte mit 1,45 Meter. Und auch bei den Weltmeisterschaften der Senioren 2001 in Australien war sie erfolgreich. Sie wurde Vierte im Hochsprung und Zehnte im Kugelstoßen. Renate Gärtner unterrichtet heute als Oberstudienrätin Sport und Geographie am Ulrich-von-Hutten-Gymnasium in Schlüchtern. Tolerantes Denken, natürlicher Umgang miteinander ohne Vorurteile und ein aufeinander Zugehen in Freundschaft, das sind Merkmale, die sie durch den Sport gelernt hat, und sie versucht dies an ihre Schüler weiterzugeben und sie dafür zu begeistern.